Im Mai 2024 enden die Übergangsbestimmungen der Medical Device Regulation. Dann verlieren auch die letzten nach der abgelösten Medizinprodukte-Richtlinie ausgestellten Zertifikate ihre Gültigkeit. Die Politik muss Lösungen insbesondere für Nischen- und Bestandsprodukte finden sowie Unterstützungsmaßnahmen für kleine und mittelständische Unternehmen schaffen.
Die Medizintechnik ist für Deutschland ein wichtiger Wirtschaftszweig. Daher hat die europäische Medical Device Regulation (MDR), die seit einigen Monaten in Kraft ist, die Bundesrepublik auch besonders stark getroffen, so Hans-Peter Bursig, Geschäftsführer des ZVEI-Fachverbandes Elektromedizinische Technik. Gemeinsam mit anderen MedTech-Verbänden fordert er von der Politik, jetzt Lösungen zu finden, die den aktuellen Zeitdruck bei der MDR entschärfen und es Herstellern damit ermöglichen, ihre Produkte rechtzeitig nach den neuen Anforderungen zu zertifizieren. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen drohen Deutschland Versorgungsengpässe für wichtige Medizinprodukte, Betriebsschließungen und Einbrüche im deutschen Mittelstand, so Branchenvertreter.
Die MDR „würgt der MedTech-Branche den Innovationsprozess ab (https://background.tagesspiegel.de/gesundheit/dihk-report-mdr-hemmt-investitionen)“, moniert auch Erhard Fichtner, Vorstandsvorsitzender der German Health Alliance (GHA) und Inhaber der PROTEC GmbH & Co. KG – ein Unternehmen, das digitale Röntgensysteme herstellt. Fichtner kennt die Probleme bei der Umsetzung der MDR nur allzu gut. Bereits die Medizinprodukte-Richtlinie (MDD) sei eine enorme Hürde gewesen. „Die MDR ist dagegen ein hoher Berg“ (https://background.tagesspiegel.de/gesundheit/mit-der-mdr-ueber-das-ziel-hinausgeschossen), sagt er. Und das liege nicht nur an den umfangreichen Vorgaben zur technischen Dokumentation, sondern auch am Personalmangel. „Es gibt schlichtweg kein Personal“, sagt Fichtner. „Das ist für uns das größte Damoklesschwert.“ Zurzeit müsse er Mitarbeiter aus der Entwicklung in die technische Dokumentation abziehen, um die MDR-Vorgaben fristgerecht erfüllen zu können. Innovationen blieben dabei auf der Strecke.
Im Grunde brauche er zwei weitere Mitarbeiter, um die Dokumentation, die mehrere Ordner je Produkt umfasse, bewerkstelligen zu können. Vor diesem Problem stehen alle Unternehmen der Branche in Deutschland. Doch „Regulatory Affairs Manager“ seien nur über Headhunter zu bekommen – und auch dann nur schwierig. Gesucht werden dabei vor allem Ingenieure im Bereich der Medizin- oder Elektrotechnik, die auch in der Lage sind, medizinische Fragestellungen zu beurteilen.
Europaweit nur 27 Benannte Stellen
Die gesamte MedTech-Branche kennt gerade kaum ein anderes Thema und arbeitet auf Hochtouren, um den knappen Zeitplan einhalten zu können. „Der regulatorische Aufwand in den Unternehmen ist um ein Vielfaches gestiegen“, sagt Bursig. „Die vielen Änderungen der MDR machen bei allen einen Lernprozess notwendig und der braucht Zeit.“ Dennoch hätten sich die Unternehmen so gut es geht auf die neuen Anforderungen eingestellt und vorbereitet. Erschwerend hinzu kommt, dass längst noch nicht alle Rahmenbedingungen zur vollständigen Anwendung der MDR auf Seiten der europäischen Gesetzgeber geschaffen worden sind. „Es fehlen immer noch verschiedene Rechtsakte und Leitfäden“, so Bursig.
Nach wie vor gebe es auch viel zu wenig Benannte Stelle (https://background.tagesspiegel.de/gesundheit/pruefung-von-medizinprodukten-der-markt-ist-leer). „Europaweit sind es aktuell nur 27“, sagt Bursig. Als die nun abgelöste MDD noch galt, waren es 58 – und die mussten bei Weitem nicht so viele Produkte zertifizieren, wie es die MDR nun vorsieht. Erst nach und nach werden die Benannte Stellen wieder akkreditiert, während den Herstellern, die auf einen Termin warten, die Zeit davonläuft. Fichtners Benannte Stelle ist beispielsweise erst seit Kurzem wieder für die MDR akkreditiert worden. „Die Vorlaufzeit für eine Auditierung beträgt nach Einreichung aller erforderlichen Unterlagen sechs bis neun Monate“, so Fichtner. Und das sei bei anderen Benannten Stellen nicht anders.
In zwei Jahren mehr Klarheit
„In der Branche herrscht momentan eine große Unsicherheit“, sagt Bursig. Und es sei absehbar, dass es nicht alle Unternehmen schaffen werden, rechtzeitig ihre Zertifikate zu bekommen, um den europäischen Marktzugang zu behalten. Andere würden bereits vorher ihre Produkte einstellen oder Firmen verkaufen, so Fichtner. Letztlich werde die Verfügbarkeit der auf dem europäischen Markt erhältlichen medizintechnischen Produkte abnehmen, glaubt er. „Zahlreiche Unternehmen gaben in einer aktuellen Studie des Bundesverbandes Medizintechnologie (https://background.tagesspiegel.de/gesundheit/bvmed-schlaegt-initiative-medtech-2030-vor) an, entweder einzelne Produkte oder ganze Produktlinien eingestellt zu haben.“
Grundsätzlich gilt die deutsche Medizintechnik-Branche als stark und innovativ. Das liege nicht zuletzt an der mittelständischen Prägung, so Bursig. Die Branche ist Arbeitgeber für mehr als 235.000 Menschen und Motor für die gesamte Gesundheitswirtschaft, in der in Deutschland sieben Millionen Menschen beschäftigt sind.
Wie schwerwiegend die Auswirkungen der MDR am Ende tatsächlich sind, werde sich frühestens im Mai 2024 zeigen. „Dann wissen wir, wie viele Unternehmen es mit ihren Produkten geschafft haben“, so Bursig. Doch den Berg, von dem Fichtner gern spricht, habe man auch dann noch nicht überwunden. „Dann haben wir es erst einmal durch den Nebel geschafft.“ Es wird Bursigs Überzeugung nach noch zwei bis drei weitere Jahre dauern, bis die Branche in Gänze wieder zur alten Leistungsfähigkeit und Innovationskraft zurückgefunden haben wird.
Was die Politik noch tun kann
„Um zum Ende der Übergangsfrist einen massiven Einbruch verfügbarer Medizinprodukte zu verhindern, sind zeitnahe, effiziente Lösungen notwendig“, sagt Fichtner. Die Politik habe das Problem mittlerweile auch erkannt, ist sich Bursig sicher. Doch Fristen einfach nach hinten zu verschieben, werde das Problem nicht in Gänze lösen können. „Zeit ist nur ein Faktor – wir brauchen allerdings einen ganzen Maßnahmenkatalog“, sagt Bursig. Er denke da beispielsweise an spezielle Förderprogramme, die Schaffung weiterer personeller Ressourcen bei den Benannten Stellen und eine weitere Optimierung der regulatorischen Prozesse zum Beispiel durch Digitalisierung. Extrem hilfreich wäre Bursig zufolge auch, für Bestandsprodukte bei der MDR-Anwendung vorübergehend Ausnahmen bei einzelnen Anforderungen an die Dokumentation zu gewähren. Neben ZVEI und GHA setzt sich auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) dafür ein, Lösungen für die aktuellen Probleme zu finden.
„Klar ist: Einfache Lösungen gibt es nicht und Deutschland muss seine Positionen auf europäischer Ebene mit Nachdruck vertreten“, sagt der ZVEI-Fachverbandsgeschäftsführer. Die Verbände stehen derweil Seite an Seite. Unter dem Schirm der GHA organisieren sich beispielsweise die Mitglieder, um sich gegenseitig zu unterstützen und Synergieeffekte zu nutzen. Gleichzeitig stehen die Verbände der medizintechnischen Industrie in Deutschland im Austausch mit deutschen Behörden und Benannten Stellen in Deutschland. Denn grundsätzlich glauben alle an eine gute Zukunft für die MedTech-Branche. „,Made in Germany‘ hat vor allem im außereuropäischen Markt nach wie vor eine große Bedeutung“, sagt Fichtner.