Neue Messtechnik, Sensoren oder Schnittstellen: Hinter Veränderungen, die mit bloßem Auge kaum erkennbar sind, steckt oft große Technik. Patente stellen sicher, dass der wissenschaftliche Aufwand dahinter entsprechende Anerkennung findet. Das Health-Tech Unternehmen Ottobock erhielt aktuell ein Patent für eine einfachere Sensorik zur Steuerung von Prothesen und Orthesen.
„Ich habe mich über das Patent gefreut. Ganz persönlich steht aber für mich das Emotionale an erster Stelle“, sagt Entwicklungsingenieur Dirk Seifert. „Der Heureka Moment war für mich, als die ersten Menschen mit dem System gegangen sind und begeistert waren; mir gesagt haben, dass es sich besser anfühlt, als alles, was sie vorher gehabt haben.“ Eineinhalb Jahre hat er mit seinem Forscher- und Entwickler-Team daran gearbeitet, das Sensor- und Steuerungskonzept zu vereinfachen. Eingesetzt wird es in künstlichen Kniegelenken und Beinprothesen wie dem C-Leg 4, in Orthesen wie C-Brace 2 und künftig vielleicht auch in Exoskeletten. OrthopädietechnikerInnen müssen dadurch weniger Einzelteile stecken und verschrauben, was den Zusammenbau weniger fehleranfällig macht und den Aufwand reduziert. AnwenderInnen können damit einfacher und natürlicher gehen.
Mit dem US-Patent US10945863 feiert Ottobock am Welttag des geistigen Eigentums die jüngste Patenterteilung. Am 26. April 2021 findet der World IP Day der World Intellectual Property Organization (WIPO) statt: „Wenn eine Idee gepflegt und mit Einfallsreichtum, Know-how und Gespür angereichert wird, wird sie zu einem geistigen Eigentum, das die Geschäftsentwicklung, den wirtschaftlichen Aufschwung und den menschlichen Fortschritt vorantreiben kann“, schreibt die WIPO auf der Website.
Das steckt hinter dem neuen Patent für das Ottobock Kniegelenk
Im Frühjahr 2021 wurde Ottobock das Patent erteilt – genau 30 Jahre, nachdem das erste C-Leg-Patent angemeldet und 25 Jahre, nachdem das ursprüngliche C-Leg Patent zur Prothesensteuerung erteilt wurde (US 5571205). Das C-Leg ist ein künstliches Kniegelenk für Menschen, die ihr Bein bei einem Unfall oder durch eine Krankheit wie Krebs verloren haben. Ein Mikroprozessor macht aus den von Sensoren erfassten Informationen Steuerungsbefehle, die den Gang etwa auf Treppenstufen, ebene Straßen oder Steigungen wie Berge einstellt. Das Basispatent für die 4. C-Leg-Generation beschreibt die nächste Stufe der Prothesensteuerung. Das Innovative daran: Während zuvor mit zahlreichen und verhältnismäßig teuren Kraftsensoren gemessen wurde, wie stark eine Prothese belastet wird oder wie stark Biegemomente sind, setzt die neue Steuerung allein auf Bewegungsmessung. Bewegungssensorik, speziell Inertial-Measurement-Units, ist aus der Prothetik und Orthetik nicht mehr wegzudenken. Auch in Smartphones kommt sie zum Einsatz – zum Beispiel für Activity-Tracker: „Bei Ottobock haben wir sehr früh auf diese Technologie gesetzt und es im C-Leg 4 das erste Mal geschafft, uns ausschließlich auf diese Bewegungssensorik zu verlassen“, sagt Dirk Seifert.
Diese kinematischen Sensoren erfassen an einem zentralen Punkt alle nötigen geometrischen Bewegungseigenschaften: Wie bewegt sich die Prothese im Raum? Wie bewegen sich Oberschenkel und Unterschenkel zueinander? Das verringert den Messaufwand, verbessert die Robustheit und macht die Prothese schlanker, indem weitere angeschraubte und gesteckte Sensoren wegfallen. Durch die detaillierten Bewegungsinformationen weiß das künstliche Gelenk genau, in welcher Gangphase und Aktivität es sich befindet. Geht man etwa auf weichem Waldboden, ist die Kraft-Messung weniger eindeutig, als etwa auf Asphalt. Diese Ungenauigkeit entfällt mit der ausschließlichen Nutzung kinematischer Messdaten. Weil die TrägerInnen ihre Bewegungen leichter kontrollieren können, als die Kräfte, die auf ihre Prothese wirken, bedeutet die neue Sensorik für sie, leichter und natürlicher auf verschiedenen Untergründen gehen zu können.
Dirk Seifert beschreibt den Entwicklungsprozess hinter dem Patent so: „Das sind wirklich schöne Momente, an die man sich lange erinnert. Am Anfang hat man eine ungefähre Ahnung, wie etwas funktionieren könnte. Dann sammelt man Daten, baut erste Prototypen, hat ein paar kleine Rückschläge. Und Stück für Stück fügen sich die Dinge zusammen und ergeben ein Bild, bis man den Durchbruch hat. Das ist ein faszinierender Prozess!“
Ottobock zählt zu den innovativsten Unternehmen Deutschlands
Dr. Andreas Goppelt, Chief Technology Officer von Ottobock, sagt: „Ich bin stolz darauf, dass unsere hohe Innovationskraft durch zahlreiche Patente untermauert wird. Drei Kriterien lassen eine Idee zu einem Patent werden: Sie muss neu, erfinderisch und gewerblich anwendbar sein. Nicht alle Ideen führen zum Ziel. Und weil wir hohe Aufwendungen in Forschung und Entwicklung investieren, die Menschen mit Handicaps hilft ein normales Leben zu leben, sind Schutzrechte eine wirtschaftliche Grundlage unserer Industrie.“ Der Technologieführer in Wearable Human Bionics*, Ottobock, reicht weltweit rund 200 Patente pro Jahr ein (Nachanmeldungen). Ende 2020 besaß das Unternehmen 1886 erteilte Patente in über 540 Patentfamilien – darunter technische Innovationen bei Prothesen, Exoskeletten, Orthesen und Rollstühlen. Alleine im Jahr 2020 wurden 47 Erfindungen erstmals zum Patent angemeldet (Erstanmeldungen). Kürzlich kürte das Wirtschaftsmagazin Capital Ottobock deshalb zu einem der innovativsten Unternehmen Deutschlands. Es besitzt demnach ein technologisch besonders relevantes Patentportfolio, wie PatentSight im Capital-Bericht festgestellt hat.
*Tragbare menschliche Bionik ersetzt oder erweitert einen Teil des menschlichen Körpers.